Die elementarste Form sinnlicher Freude ist die an der Sexualität und es ist gleichzeitig auch die, die hinsichtlich ihres Konfliktpotentials am problematischsten ist. Buddha hat seinen Mönchen zwar strikte sexuelle Enthaltsamkeit auferlegt, als eine der Bedingungen für den Anspruch, als sein Schüler ausschließlich von Spenden Anderer zu leben. Dies war als Nachweis ihres Nichtanhaftens an sinnlicher Freude und damit der Ernsthaftigkeit ihrer Übung sinnvoll und notwendig; als ein Zeichen, der Spenden Anderer würdig zu sein. Mit einer Tabuisierung von Sexualität hat dies allerdings nichts zu tun.
Nicht-Mönchen empfahl Buddha hingegen einen verantwortungsvollen Umgang mit Sexualität, insbesondere die Respektierung der sozialen Konventionen seiner Zeit. Konkret bedeutete dies die Respektierung der patriarchalischen Vormundschaft, die Männer über die zu ihrem Haushalt gehörenden Frauen ausübten und damit die uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihre Sexualität. Diese durch das kulturelle Umfeld historisch bedingten sozialen Konventionen und damit die Bedingungen konkreter Konflikte haben sich gewandelt, geblieben ist jedoch das Konfliktpotential von Sexualität. Der Sinn dieser kai in Bezug auf Sexualität ist die Beachtung dieses Konfliktpotentials zur Vermeidung von Konflikten. Das setzt den achtsamen und bewussten Umgang mit sinnlichen, insbesondere sexuellen Freuden voraus. Freude – in welcher Form auch immer – mit Anderen zu teilen, als Mitfreude (muditā, ki), ist neben liebevoller Freundlichkeit (maitrī, ji), Mitgefühl (karuṇā, hi) und Gleichmut (upekṣā, sha) eine Übung mit hohem Anspruch hinsichtlich ethischer Verantwortung und Nicht-Anhaftung.
Ein wichtiger Faktor eines verantwortlichen Umgangs mit Sexualität ist, dass sie nicht nur Ausdruck liebevoller und freudiger Verbundenheit ist, sondern auch als Instrument der Dominanz missbraucht werden kann. Diese Gefahr besteht, wenn die Sexualpartner nicht miteinander auf ‚Augenhöhe‘ sind; wenn also zwischen beiden ein Gefälle von Autorität besteht, möglicherweise gar eine emotionale oder materielle Abhängigkeit. Wird dies zur Befriedigung materieller oder sexueller Interessen und Bedürfnisse ausgenutzt, dann wird der Partner zum bloßen Objekt von Begierde degradiert.
Die Ursache von durch sexuelle Beziehungen verursachten Problemen insbesondere in einer Übungsgemeinschaft liegt in der Autorität, die einerseits beansprucht, andererseits – ob freiwillig oder gezwungen – zugestanden wird. Selbst, wenn ein solches Autoritätsgefälle freiwillig akzeptiert wird, bedeutet dies nicht, dass eine darauf beruhende sexuelle Beziehung kein Konfliktpotential hat. Wenn das Zugeständnis von Autorität schwindet, was die unterschiedlichsten Gründe haben kann, wird die Beziehung im Rückblick vom schwächeren Teil häufig als missbräuchlich und leidhaft empfunden.
Für eine buddhistische Übungsgemeinschaft bedeutet dies in Konsequenz, sich der Autorität, die man als Person in dieser Gemeinschaft hat und die man anderen Personen in dieser Gemeinschaft zuweist, bewusst zu sein und sie nicht unhinterfragt zu akzeptieren. Eine solche Autorität hat in einer Übungsgemeinschaft eine der Intention nach positive Funktion und häufig haben Personen, denen eine solche Autorität zugestanden wird, auch eine entsprechend herausgehobene Funktion in der Gemeinschaft. Eine solch herausgehobene Funktion (z.B. durch eine Priesterordination oder eine Lehrbeauftragung) begründet auch eine entsprechend herausgehobene Verantwortung, nicht zuletzt, wenn der Wunsch entsteht, eine Freundschaftsbeziehung auch in sexueller Form zu pflegen und zu entwickeln.
Dass ein solcher Wunsch von der Person, an die er sich richtet, erwidert wird, ist dabei unverzichtbare Voraussetzung und auch, dass eine solche Erwiderung nicht in manipulativer Weise herbeigeführt wird. Bevor eine Vertrauensbeziehung auch auf sexueller Ebene weiterentwickelt wird ist daher für beide Seiten eine gründliche Selbstüberprüfung ratsam, ob und wie weit dabei ein Autoritätsgefälle eine Rolle spielt. Beiden Seiten wird empfohlen, sich insbesondere mit dem psychologischen Phänomen der sog. ‚Übertragungsliebe‘ vertraut zu machen und die emotionale Bindung in dieser Hinsicht gründlich zu prüfen. Dass das Maß an Verantwortung dafür nicht auf beiden Seiten das gleiche ist, sondern an das Maß der Autorität gekoppelt ist, sei hier nochmals betont.
Besteht zwischen den Beteiligten ein formales Lehrer-Schüler-Verhältnis, was zwangsläufig ein Autoritätsgefälle impliziert, so ist dieses in einer für die Gemeinschaft transparenten Weise aufzulösen. Nach der formalen Auflösung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses ist dem psychologischen Abbau des damit verbundenen Autoritätsgefälles vor Aufnahme einer sexuellen Beziehung eine angemessene Zeit einzuräumen. In psychotherapeutischen Beziehungen ist hier durch die Berufsordnung eine Wartezeit von mindestens einem Jahr vorgeschrieben; analog empfiehlt auch die Deutsche Buddhistische Union in ihrer Ethikrichtlinie eine Mindestfrist von einem Jahr. Entscheidend ist jedoch weniger die Einhaltung einer bestimmten Frist als die genannte gründliche, den jeweiligen Umständen angemessene Prüfung sowie ein offener, und nicht-verletzender Umgang mit allen Wesen, die von der Beziehung unmittelbar betroffen sind.
IN WAHRER LIEBE ERLANGST DU FREIHEIT. WENN DU LIEBST, GIBST DU DER PERSON, DIE DU LIEBST, FREIHEIT. WENN DAS GEGENTEIL WAHR IST, IST ES KEINE WAHRE LIEBE. DU MUSST AUF EINE ART LIEBEN, DASS DIE PERSON, DIE DU LIEBST, SICH FREI FÜHLT, NICHT NUR ÄUSSERLICH, AUCH INNERLICH.
(Thích Nhất Hạnh, Wahre Liebe: Eine Praxis zum Erwachen des Herzens)