Das Zazen-gi ist ein chinesischer Zen-Text, der etwa 200 Jahre vor Dōgens Fukan Zazengi entstand. Er ist auch unter dem Titel Zuòchán-yí (坐禪儀) bekannt und wurde von Changlu Zongze (長蘆宗賾) im frühen 12. Jahrhundert verfasst. Dieser Text ist Teil des Chányuán qīngguī (禪苑清規), des ersten umfassenden Regelwerks für Chan-Klöster.
“Anleitung zum Zazen:
Bodhisattvas, die nach Weisheit streben, sollten zuerst großes Mitgefühl in sich wecken, die Vier Großen Gelübde ablegen und Samadhi kultivieren. Gelobt, alle Wesen zu befreien, statt nur für euch selbst nach Befreiung zu streben!
Lasst dann alle Bedingungen los und bringt alle Sorgen zur Ruhe, sodass Körper und Geist eins werden und keine Trennung mehr besteht zwischen Bewegung und Stille. Seid mäßig im Essen und Trinken, nehmt weder zu viel noch zu wenig zu euch. Regelt euren Schlaf, ohne euch seiner zu berauben noch euch ihm übermäßig hinzugeben.
Breitet zum Zazen an einem ruhigen Ort eine dicke Matte aus, lockert eure Kleidung, behaltet jedoch eine angemessene Haltung bei, und setzt euch im vollen Lotossitz nieder. Legt zuerst den rechten Fuß auf den linken Oberschenkel, dann den linken Fuß auf den rechten, oder sitzt im halben Lotos und legt den linken Fuß auf den rechten Oberschenkel. Legt nun die rechte Hand auf den linken Fuß und die linke Hand in die rechte, sodass sich die Daumen berühren. Richtet den Oberkörper auf und dehnt ihn nach vorne, wiegt euch von einer Seite zur anderen und setzt euch dann aufrecht hin. Neigt euch nicht zur Seite, nach vorne oder hinten. Ordnet Becken, Wirbelsäule und Kopf an wie eine Stupa, aber wendet keine Anstrengung auf, um den Körper aufzurichten, da dies den Atem einschränkt und Unbehagen verursacht. Die Ohren sind an den Schultern ausgerichtet, die Nase befindet sich über dem Nabel, die Zunge ruht am Gaumen, der Mund ist sanft geschlossen, und die Augen sind leicht geöffnet, damit keine Schläfrigkeit aufkommt. Das ist ideal, um die konzentrierte Kraft von Dhyana aufrechtzuerhalten.
In früheren Zeiten saßen vortreffliche Mönche, die in dieser Praxis erfahren waren, stets mit offenen Augen. Zen-Meister Fayun Yuantong tadelte jene, die mit geschlossenen Augen dasaßen – sie übten wie in einer Geisterhöhle in einem dunklen Berg. Das tat er aus gutem Grund, wie erfahrene Übende wohl wissen.
Wenn sich der Körper ruhig niedergelassen hat, reguliert ihr den Atem und entspannt den Bauch. Lasst keine Gedanken aufkommen, weder gute noch schlechte. Stellt sich doch ein Gedanke ein, nehmt ihn wahr. Sobald ihr ihn wahrnehmt, verflüchtigt er sich. Irgendwann sind die Bedingungen vergessen, und alles ist auf natürliche Weise geeint. Das ist das Wesen von Zazen. Zazen ist wahrhaft das Dharma-Tor zu Wohlbefinden und Freude.
Wird man krank davon, übt man nicht mit gebührender Sorgfalt. Wird auf rechte Weise geübt, so wird der ganze Körper von selbst leicht und entspannt, das Gemüt frisch, der Geist klar. Der Geschmack des Dharmas bleibt erhalten, und man ist ruhig, rein und voller Freude. Habt ihr bereits eine Verwirklichung erfahren, so ist das, wie wenn ein Drache ins Wasser hineinfährt oder wie wenn ein Tiger die Berge durchstreift. Müsst ihr es noch verwirklichen, gebraucht den Wind, um die Flamme anzufachen; handelt in Absichtslosigkeit, große willentliche Anstrengung ist nicht vonnöten. Findet selbst die Bestätigung, dann werdet ihr nicht getäuscht. Führt der Pfad jedoch in die Höhe, wimmelt es dort von Dämonen, und es treten allerhand Erfahrungen auf, angenehme wie unangenehme. Bleibt einfach achtsam, dann wird euch nichts dergleichen zum Hindernis. Im »Surangama-Sutra«, im »Tiantai Zhiguan« und in Guifengs »Anweisung zu Kultivierung und Verwirklichung« werden diese dämonischen Zustände ausführlich beschrieben; so könnt ihr euch im Voraus dagegen wappnen.
Wenn ihr aus der Meditation herauskommt, bewegt euch langsam und steht ruhig auf, ohne Hast und Grobheit. Bedient euch zu allen Zeiten geeigneter Mittel, um die konzentrierte Kraft von Dhyana zu bewahren und zu erhalten, so als würdet ihr einen Säugling auf dem Arm tragen. Dadurch entwickelt sich diese Kraft mühelos. Dies ist die vordringlichste Aufgabe, denn wenn ihr nicht ruhig und gefasst übt, werdet ihr letztendlich völlig verloren sein. Wer nach der Perle sucht, tut dies am besten, indem er die Wellen beruhigt. Ist das Wasser der Konzentration still und klar, so offenbart sich die Perle des Geistes von selbst. Daher heißt es im »Sutra der vollkommenen Erleuchtung«, dass durch Dhyana die schrankenlose, reine Weisheit entsteht. Im Lotos-Sutra steht, man solle an einem stillen Ort den Geist kultivieren und zur Ruhe kommen lassen, bis er so ruhig ist wie der Berg Meru. Um das Weltliche und das Heilige zu transzendieren, ist daher ruhige Meditation vonnöten. Ob man befreit im Sitzen oder Stehen dahinscheiden kann, hängt von der konzentrierten Kraft von Dhyana ab.
Selbst wenn ihr dieser Sache euer Leben widmet, müsst ihr darauf achten, nicht zu versagen. Und wenn ihr eure Zeit vergeudet, wie in aller Welt wollt ihr dann eure karmischen Hindernisse überwinden? Daher hat ein Weiser in alter Zeit gesagt, ohne die konzentrierte Kraft von Dhyana kauere man am Tor des Todes. Mit verhüllten Augen beendet man sein Leben vergeblich wie ein Vagabund.
Vom Glück begünstigte Dharma-Freunde, lest diese Anleitungen bitte wieder und wieder! Lasst uns alle gemeinsam vollständig erwachen – zum eigenen Nutzen und zum Nutzen anderer Wesen!”
aus Shore, Jeff. Der Weg beginnt unter deinen Füßen: Zen für das moderne Leben (pp. 48-51)
Dōgen Zenji, der Begründer der Soto-Schule in Japan, war stark vom „Zuochan Yi“ beeinflusst. In seinem Werk „Fukan Zazengi“ (普勧坐禅儀) übernimmt er viele Anweisungen direkt aus dem „Zuochan Yi“ und integriert sie in seine Lehre des „Shikantaza“ (nur sitzen). Dōgen betont jedoch zusätzlich die Bedeutung des „Nicht-Denkens“ (非思量, hishiryō) und die Praxis als Ausdruck der bereits vorhandenen Erleuchtung.