Durch einen Teefreund wurde ich kürzlich auf auf ein kleines (knapp 1 min) englischsprachiges Youtube-Video aufmerksam gemacht, das recht anschaulich den Zusammenhang von ‘Stress’ und ‘Loslassen’ aufzeigt: https://www.youtube.com/watch?v=_usG8J2AXm0
Für Nicht-Anglophone zusammengefasst: das Gewicht des vollen Wasserglases, das die Hand hält, ist nicht entscheidend für den Stress, den dieses Halten auf den Arm ausübt. Entscheidend ist der Faktor Zeit – wenn man das Glas Wasser eine Stunde lang hält, wird der Arm zu schmerzen beginnen, selbst wenn es nur ein kleines Glas Wasser ist. Also: stell Dein Glas ab.
Viele westliche Buddhisten ziehen es vor, den terminus technicus ‘duhkha’ etwas neutraler mit ‘Stress’ (statt mit ‘Leiden’) zu übersetzen. Die buddhistische Lehre geht nun davon aus, dass dieser ‘Stress’ ein notwendiges (besser: unvermeidliches) Merkmal jeglichen Ergreifens ist. Der ‘Stress’ wird auf körperlicher Seite in den Erscheinungen Alter, Krankheit und Tod sichtbar. Stress ist kein unüberwindliches Merkmal, versteht sich, und Loslassen der Schlüssel zur Überwindung – genau darum geht es im Buddhismus und damit auch im Übungsweg des Zen.
Wie Dōgen Zenji vielleicht sagen würde: wir müssen das Prinzip des Festhaltens und Loslassens mit ungetrenntem Herz-Geist studieren. Wobei die zentrale Botschaft des Filmchens – “Loslassen” – natürlich auch ins Zentrum gehört. Aber, wenn es überhaupt um etwas Erwägenswertes ginge, dann doch nicht wirklich darum, ‘Stress’ loszulassen, sondern vielmehr darum, ihn gar nicht erst entstehen zu lassen. Der Stress entsteht durch Ergreifen – durch das Festhalten-Wollen flüchtiger Momente eines sich stets wandelnden dynamischen Prozesses. Stress, weil es ein Greifen ins Leere ist: eben dieser flüchtige Moment des dynamischen Prozesses ist in dem ihm folgenden flüchtigen Moment des Ergreifens bereits unwiderruflich vergangen. Zwischen beiden Momenten besteht lediglich eine konditionale Beziehung, wechselseitiges Bedingen. Die klammernde Hand ist leer. Der zeitliche Abstand zwischen den Momenten des Ergreifens und des Loslassens bestimmt den Grad des Stresses.
Was weiter? Den Moment, der kommt, ohne Gier oder Furcht empfangen und ihn ohne Bedauern frei lassen, ihn gehen lassen, wie er geht. Und wenn es sich einrichten lässt, dazu einen gepflegten Tee schlürfen. Wenn der Tee gut ist, hat man’s spätestens beim 6. Aufguss verstanden …
Vielen Dank für den schönen Artikel, und die Verlinkung zum Video. 🙂
Ich finde allerdings, daß die Bezeichnung “Leiden” besser paßt als “Stress”. Ich denke auch, daß die absolut große Mehrheit der westlichen (echten) Buddhisten das so unterschreiben würde!
Daß “Viele westliche Buddhisten” es vorziehen würden, den Begriff dukkha “etwas neutraler” mit Stress übersetzen würden, -da kommt es wohl darauf an, wie viele denn real diese “Vielen” sind. ich halte das für ein Zeichen mangelnder Kenntnis und Dekadenz. Wem an der reinen, unverfälschten Lehre Buddhas gelegen ist, bleibt wohl lieber bei der Übersetzung “Leiden”. Nach 2500 Jahren wird aus Dukkha statt Leiden plötzlich Stress? Man soll nicht jeden modischen Quark mitmachen. (Die Gender Sprachdeformierung läßt grüßen).
Mit Leiden ist im Wesentlichen das Unbefriedigende, frustrierende, nicht zufriedenstellende gemeint, welches durch die Vergänglichkeit usw. usf. verursacht wird.
Hier die Definition von dukkha:
Leiden, Leidunterworfensein, Unzulänglichkeit, Elend, Übel, Schmerz, Verletzung, Unbefriedigtheit: Wörtlich “schwer zu ertragen”; die spannungsreiche Qualität aller Erfahrungen, die von Verlangen, Anhaften und Ego begleitet werden.
Dukkha gilt als universelles Charakteristikum aller Phänomene; da die Dinge unbeständig sind, sind sie unzuverlässig und können uns nie zufrieden stellen. Der naturgegebene Verfall und die Auflösung der Dinge ist dukkha.
Es ist nicht bloß das aktuelle Leidensgefühl gemeint, sondern auch das potentielle Leiden, das ‘Dem-Leiden-Ausgesetztsein’ oder das ‘Dem-Leiden-Unterworfensein!
Quelle: https://www.palikanon.com/wtb/dukkha.html
Beste Grüße
Herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Ich habe mir gedacht, ich übersetze mal einen (kleinen) Abschnitt aus dem Eintrag ‘Dukkha’ in ‘The Pali Text Society’s Pali-English Dictionary’ – ich denke, was da über Englisch gesagt wird, gilt für das Deutsche in gleicher Weise:
“Im Englischen gibt es kein Wort, das den gleichen Bereich abdeckt wie Dukkha im Pali. Unsere modernen Wörter sind zu spezialisiert, zu begrenzt und normalerweise zu stark. Sukha & Dukkha sind ‘ease’ [Leichtigkeit] und ‘dis-ease’ [Unwohlsein] (aber wir verwenden ‘disease’ in einem anderen Sinn); oder ‘wealth’ [Wohlstand] und ‘ilth’ [historisch: Elend] von ‘well’ [gut] und ‘ill’ [krank] (aber wir haben ‘ilth’ jetzt verloren); oder ‘wellbeing’ [Wohlbefinden] und ‘ill-ness’ [Krankheit] (aber Krankheit bedeutet im Englischen etwas anderes). Wir sind daher gezwungen, bei der Übersetzung halbe Synonyme zu verwenden, von denen keines exakt ist. Dukkha ist gleichermaßen geistig wie körperlich. Schmerz ist zu überwiegend körperlich, kummer zu ausschließlich geistig, aber in manchen Zusammenhängen müssen sie in Ermangelung einer genaueren Wiedergabe verwendet werden. Unbehagen, Leiden, Krankheit und Ärger können gelegentlich in bestimmten Zusammenhängen verwendet werden. Elend, Not, Pein, Kummer und Weh sind niemals richtig. Sie sind alle viel zu stark sind nur mental.”