Diese Tage musste ich des öfteren an eine alte Geschichte denken. Dōgen eröffnet das Kapitel ‘Soshi Seirai’ seines Shōbōgenzō mit ihr; sie findet sich auch – in etwas knapperer Form – in der Kōan-Sammlung Mumonkan als 5. Präzedenzfall:
Der Großmeister Kyōgen Chikan, Dharma-Erbe von Isan Reiyū, wandte sich an die Versammlung und sagte: “Eine Person befindet sich auf einem Baum über einem tausend Fuß hohen Abgrund. Sein Mund beißt in den Ast; seine Füße stehen nicht auf dem Baum; seine Hände hängen nicht an einem Ast. Plötzlich fragt ihn eine Person unterhalb des Baumes: “Was ist die Absicht des Dharma-Vorfahren, der aus dem Westen kommt?” Wenn er dann den Mund öffnet, um ihm zu antworten, verliert er Körper und Leben; wenn er nicht antwortet, versagt er sich dem Fragesteller. Sage mir, was soll er tun?”
Wir leben in Zeiten, wo man, den Ast loslassend und sein Schweigen brechend, nicht umhin kommt, vom Krieg zu sprechen. Vom blutigen Krieg in der Ukraine, aber auch vom Krieg, der um unsere Köpfe und Herzen geführt wird – und vielleicht sogar in unseren Köpfen und Herzen stattfindet. Der Krieg rückt uns näher, es wird zunehmend unbehaglich. Fort war er ja nie – und je weiter wir im Gehen des Bodhisattva-Weges die Grenzen unseres Mitgefühls erweitern um sie schließlich aufzuheben, um so deutlicher nehmen wir diesen permanenten Krieg ja auch wahr; als ein Charakteristikum von Shōji, von Leben-und-Tod. Also eigentlich – ‘Saṃsāra wie üblich’…
Unsere Reaktion darauf sollte trotzdem keine gleichgültige sein; ich bitte, das ‘Saṃsāra wie üblich’ nicht als Zynismus misszuverstehen. Aber es sollte eine von Gleichmut, von Geduld und Ausdauer geprägte Reaktion sein. Duldsamkeit, Nin Haramitsu; Kṣānti.
Diese Übung ist eine wichtige Ergänzung unserer Übung des Großen Mitgefühls: Dai Hi, Mahākaruṇa. Das Leiden wahrnehmen und mitleiden, es mit empfinden. Dies führt ganz natürlich zu einer weiteren Übung – Fuse Haramitsu, Dāna Pāramitā. Freigebigkeit, Barmherzigkeit; die Übung, Leid zu lindern, wo und wie immer es uns möglich ist.
Das Diamantsutra lehrt, dass Dāna Pāramitā eine Übung ist, in der bestimmte Sichtweisen aufzugeben sind:
Der Buddha sagte zu Subhuti: “Alle Bodhisattva-Mahasattvas sollten so ihren Geist bezwingen: alle Arten und Gattungen von existierenden fühlenden Wesen[…], all diese muss ich in das vollständige Nirvana führen und sie (von allen Leiden) befreien. Und dennoch ist, selbst wenn unermesslich, unzählbar und unbegrenzt viele fühlende Wesen so befreit worden sind, tatsächlich kein fühlendes Wesen befreit worden. Und warum? Subhuti, weil ein Bodhisattva, der die Vorstellung von einem Selbst, die Vorstellung von einer Person, die Vorstellung von einem fühlenden Wesen oder die Vorstellung von einer Lebensspanne hat, kein Bodhisattva ist.
Überdies, Subhuti, sollte ein Bodhisattva Freigebigkeit ausüben, ohne an irgendwelchen Objekten zu haften. Das heisst, er sollte Freigebigkeit ausüben, ohne an Formen zu haften, ohne an Geräuschen, Gerüchen, Geschmack, Berührungen oder mentalen Erscheinungen zu haften. So sollte er Freigebigkeit ausüben.
(Vajracchedikā-prajñāpāramitā-sūtra)
Das ist ‘Kernholz des Bodhibaumes’ – und so wird es auch in der Theravada-Traditionslinie gelehrt:
Nur Leid gibt es, doch keinen Leidenden,
keinen Täter gibt es, doch die Tat.
(Buddhaghosa, Visuddhimagga)
Für mich bedeutet dies konkret, mich nicht dazu verleiten zu lassen, Krieg unter dem Aspekt ‘Opfer und Täter’ zu sehen. Dem Impuls nicht nachzugeben, Partei zu ergreifen; die Welt in ‘Seiten’ einzuteilen, um einer Seite Schuld zuweisen und sich selbst von Schuld freisprechen zu können. Ich kenne keine Parteien, nur fühlende und leidende Wesen. Keine Nationen, nicht bei Soldaten und auch nicht bei Flüchtlingen, wo für Viele in unserem wohlhabenden Land anscheinend die Länge des Fluchtweges entscheidend für Gewährung oder Verweigerung von Hilfe und Zuflucht ist.
Mitfühlen und Mitleiden gibt uns Einsicht in Duḥkha, Leiden – die erste der vier ‘edlen Wahrheiten’ des Buddhadharma. Ich verwende bewusst den etwas unpopulär gewordenen Begriff ‘Mitleid’, weil es genau um diese Empfindung geht. Issai Kai Ku – alle Empfindungen sind leidhaft. Aber die Konsequenz daraus ist nicht, sich dem Leid zu verschließen, sondern vielmehr im Mitleiden die Bedingungen des Entstehens von Leid nicht mit- und nachzuempfinden: Gier und Hass, entstehend aus Unwissenheit. Das ist unsere Aufgabe auf dem ‘Marktplatz’.
Gerade dabei hilft uns die Übung des Gleichmuts; zweifellos keine einfache Übung. Gleichmut ähnelt dem Schwebepunkt, wo sich Hass und Gier wie zwei gleiche Gewichte auf einer Waage gegenseitig aufheben. Der mittlere Weg. Wo wir lernen zu sehen, ohne Zu- und Abneigung als emotionalen Schleier vor Augen zu haben.
Subhuti, das erste ‘zum anderen Ufer Führende’ (Pāramitā), das vom ‘in Soheit Gehenden’ (Tathāgata) gelehrt wurde, ist nicht das erste ‘zum anderen Ufer Führende’; nur sein Name ist ‘erstes zum anderen Ufer Führendes’. Subhuti, das ‘zum anderen Ufer Führende’ der Duldsamkeit (Kṣānti-Pāramitā), das vom ‘in Soheit Gehenden’ gelehrt wurde, ist auch nicht das ‘zum anderen Ufer Führende’ der Duldsamkeit; deshalb wird es ‘zum anderen Ufer Führendes der Duldsamkeit’ (nur) genannt. Und warum?
Subhuti, in ferner Vergangenheit, als mein Körper von König Kalirāja zerstückelt wurde, da hatte ich weder die Vorstellung von einem Selbst, noch eine Vorstellung von einer Person, noch eine Vorstellung von einem fühlenden Wesen, noch eine Vorstellung von einer Lebensspanne. Und warum?
Hätte ich, als meine Glieder in Stücke geschnitten wurden, die Vorstellung von einem Selbst, die Vorstellung einer Person, die Vorstellung eines fühlenden Wesens oder die Vorstellung einer Lebensspanne gehabt, so hätte ich damals gewütet und Groll gegen ihn empfunden. […]
Deshalb, Subhuti, sollte ein Bodhisattva, nachdem er sich selbst von allen Merkmalen befreit hat, den Geist unübertroffen perfekten Erwachens (anuttarā samyak-saṃbodhi / anokutara-sammyaku-sambodai) erwecken. Er sollte den Geist erzeugen, ohne an Formen zu haften und ohne an Geräuschen, Gerüchen, Geschmacksempfindungen, Berührungen oder mentalen Erscheinungen zu haften, (so) sollte er den Geist erzeugen. Er sollte den Geist erzeugen, ohne irgendwo zu haften.
Wenn der Geist irgendwo haftet, ist es kein Weilen. Deshalb lehrt der Erwachte, dass der Geist eines Bodhisattva ohne an Form zu haften Freigebigkeit ausüben sollte.
(Vajracchedikā-prajñāpāramitā-sūtra)
Nachtrag – wenige Tage vor dem 24. Februar stieß ich auf dieses Zitat des Staatstheoretikers und Philosophen Thomas Hobbes aus dem Jahr 1651:
Krieg besteht nicht nur in Schlachten oder Kampfhandlungen, sondern in einem Zeitraum, in dem der Wille zum Kampf genügend bekannt ist. […] So besteht das Wesen des Krieges nicht in tatsächlichen Kämpfen, sondern in der bekannten Bereitschaft dazu während der ganzen Zeit, in der man des Gegenteils nicht sicher sein kann. Jede andere Zeit ist Frieden.
(Leviathan, Kap. XIII)
Wann hatten wir jemals eine solche “andere Zeit”?
Trotzdem: wir bitten um Frieden für diese Welt und wir bitten um Frieden in unseren Herzen.