Erhalten heißt übertragen; übertragen heißt, erwacht zu sein. So wird das Erwachtsein im Geist Buddhas das wahre Empfangen der Gelübde genannt. Dies ist die erste Zeile von Bodhidharmas Gelübden, von seinen einzeiligen Darlegungen der Gelübde:
“Die Selbstnatur ist auf geheimnisvolle Weise tief – die Sicht von Anhalten und Auslöschen nicht aufsteigen zu lassen, das wird in der Wahrheit des Dharma, des ewigen Dharma, ‘das Gelübde, kein Leben zu töten’ genannt.”
Gewöhnlich wird uns dieses Gelübde als eine Redewendung überliefert: ‘kein Leben töten’. ‘Fusesshokai’ ist das Gelübde, kein Leben zu töten. Die Selbstnatur ist tief. Die Sicht von Anhalten nicht aufsteigen zu lassen, wird im ewigen Dharma ‘kein Leben töten’ genannt. Dieses ‘kein’ und ‘Leben’ und ‘töten’ ist etwas, das wir nicht verstehen – ob es möglich ist, diese drei Dinge zu erfahren; ‘kein’ und ‘Leben’ und ‘töten’.
Zunächst – ohne Leben zu nehmen, ohne Leben zu sein, können wir nicht existieren. Wenn wir also nicht existieren, dann wird dieses Gelübde erfüllt. Wenn wir existieren, kann dieses Gelübde nicht erfüllt werden, denn als Wesen müssen wir ständig töten und dieses Töten, das Töten in einem wahren Sinne genannt wird, ist es, was wir sehen müssen. Dies ist etwas, das aufgefunden werden muss: worum geht es bei diesem ‘kein Leben töten’? Geht es wegen der menschlichen Worte um etwas Menschliches? Gewöhnlich sind sich die Menschen dieses Punktes nicht bewusst und sofort übersetzen sie diese Worte in ihrem Geist: ‘Töte nicht’, ‘Töte nichts Lebendes’, ‘Töte nicht das Leben’. Wenn es nicht möglich ist, unser Leben vollständig zu verstehen, dann vermittelt uns das Sprechen über oder das Aussprechen von ‘Kein Leben töten’ oder ‘Töte nicht’ ein wenig Verstehen von dem, was unser Leben ist.
Betrachten wir verschiedene Ereignisse – wir müssen in die Ereignisse hineinschauen, wo wir von ‘Leben töten’ sprechen. Es ist ganz offensichtlich zu benennen – eine Stechmücke mit der Hand erschlagen nennst du ‘ich habe eine Stechmücke getötet’. Bodhidharmas Beschreibung meint ‘nicht die Ansicht des Anhaltens aufsteigen lassen’. Praktisch gesehen weist das Erschlagen der Mücke dieses zurück, es ist das Erschlagen von Etwas, das eine Mücke ist. Doch dies in den Gedanken zu fassen, das Leben der Mücke werde angehalten, ist nicht die richtige Art, Erschlagen zu sehen. Wie beim Essen von Gemüse: wenn wir einen Kürbiskern essen, können wir es ansehen als das Pflanzen eines Kürbissamens in uns – genauso, als würden wir den Samen in gedüngten Boden senken. Die Form des Anhaltens zu sehen und zu sagen, “es ist Anhalten” oder den Kürbiskern anhalten zu lassen und tatsächlich zu sagen, er sei angehalten – so empfinden wir gewöhnlich.
Wenn es kein solches Anhalten gibt, dann ist das, was wir gesehen haben, das Anhalten eines nicht anhaltbaren Dinges. Das heißt, ein Teil konstanter Bewegung muss als eine Form des Anhaltens gesehen werden, um zu sehen, was Bewegung ist. Um zu sehen, was sich bewegt, musst du anhalten, was nicht angehalten werden kann und als angehaltenes Ding nicht gesehen werden kann.
Daher ist es erlaubt, zu sagen: “Ich habe eine Mücke auf meiner Wange getötet und ich habe sie nicht getötet, sie existiert immer noch”. Eine andere Art, es auszudrücken, ist, wenn die Mücke sagt: “Du denkst, du hättest mich getötet, aber ich bin niemals auf deiner Wange gestorben” oder sie kann sagen “ich weiß nicht, was mit mir geschehen ist”. Der entscheidende Punkt ist dies: dieser ewige Dharma, die ewige Wahrheit und die tiefe Natur des Selbst, legen dar, dass, wenn etwas endet, etwas das Ende zeigt, dann ist dies das Ende von uns selbst in dieser Form. Wenn also jemand in deiner Sichtweite verstirbt, oder in deiner Welt, dann ist dies, als fiele dir ein Haar aus. Zu sagen ‘er ist tot’ oder ‘er ist gegangen’ ist der falsche Weg, es zu sehen. Es ist möglich, zu sagen, er sei tot oder er sei gegangen; aber ein wichtiger Punkt in diesem Wort ‘gegangen’ und ‘tot’ ist, wie du ‘tot und gegangen’ siehst. Wie wenn der Wind um den Herbstbaum bläst und bei jedem Windstoß einige Blätter den Ast verlassen und sich auf dem Boden niederlassen, genauso ist ‘kein Leben töten’. Ewiges Leben zeigt sich in verschiedenen Formen und wir sehen es mit einer begrenzten Sicht – durch eine begrenzte Sicht sehen wir etwas Unbegrenztes. Wegen der Grenzenlosigkeit, wegen der Endlosigkeit kannst du es nicht im Ganzen sehen. Aber um es zu sehen, ist es ohne Belang, ob es unbegrenzt oder begrenzt ist. Die Tiefe der Selbstnatur, des existierenden Dinges, wie tief es ist – das ist eine sehr verwirrende Sache.
Genau benennen und ermessen, wie du gesehen hast, wie du denkst, wie du gewesen bist – die Wahrheit erlaubt es immer, darüber hinaus zu gehen. So vielleicht auch, darüber hinaus zu ‘sein’, so dass du dieselbe Art und Weise annehmen musst, wie die Wahrheit. Sonst bleibst du in der Begrenzung stecken.
Wenn jemand verstirbt, etwa sehr nahe Verwandte, dann fühlst du, als seist du selbst verstorben: ‘er ist verstorben’ oder ‘sie ist verstorben’. Weiterzuleben, ist eine so merkwürdige Erfahrung in dieser Situation. Wir erfahren dies recht oft – Abschied von dort, wo wir gewesen sind, in großer Sorge, in großer Liebe zu jemandem. Jemand in deiner großen Liebe verschwindet gnadenlos und du musst eingestehen, ‘er ist verstorben’, weil du ihn nicht mehr sehen kannst. Doch es bleibt in dieser Situation, dies zu verarbeiten – du setzt dein Leben fort und er setzt sein Leben nicht fort. Das Selbe ist es: das Verschwinden von Gemüse in deinem Mund, das Verschwinden desjenigen, der von dir gegangen ist. Es ist das Selbe, nicht vergleichbar, sondern das Selbe, was da passiert. Dieses erste Gelübde wird das Gelübde des Mitgefühls genannt, die Praxis des Mitgefühls. Durch Mitgefühl ist es dir möglich, dein Leben und das von Anderen fortzusetzen, so dass Mitgefühl und Leben an diesem Punkt identisch wird.
Das ist es, was Buddha-Geist, was erleuchtet sein im Buddha-Geist und was das Empfangen, was wahres Empfangen der Gelübde, ist. Nach dem vorherigen Beispiel: wenn jemand verstirbt und etwas hinterlässt, das er oder sie fortgesetzt hatte. So, wie wenn du manchmal das Vermächtnis siehst und in diesem ausgedrückten Vermächtnis sehen kannst, was er oder sie dir sagt. Wie wenn jemand dir großen Reichtum hinterlässt und wie du damit umgehen sollst. Aber du brauchst deswegen nicht dankbar zu sein – in gewissem Sinne hinterlässt er es zur Einäscherung. Kümmere dich darum, wie er oder sie sich darum gekümmert hat. Es ist in gewissem Sinne eine große Bürde. Aber hinter oder in diesem Vermächtnis kannst du etwas sehen, das die wahre Bedeutung dieses Vermächtnisses ist, was es dir sagt. In anderen Worten: was du da hast, ist die Natur des Vermächtnisses, und das Vermächtnis ist, dass du dich kümmerst, dich darum kümmerst. Aber der wirkliche Geist dieses Vermächtnisses ist, dass du es fortsetzen musst, als sei er in dich hineingesprungen und verschwunden. Du kümmerst dich darum, was er sein wollte.
Die Praxis des Mitgefühls ist sehr schwer. Immer steilere Wege zu gehen, bringt dich zu sehr steilen, schwierigen Orten, wo genaues Wissen und Feinfühligkeit erscheinen muss. Es ist eine sehr schwere Praxis. Liebe ist eine sehr schwere Praxis, ihr merkt es. Wenn ein wenig Anhaftung oder Unklarheit existiert, wird sie euch ständig Probleme bereiten. An diesem Punkt verstehen wir, warum dieses Gelübde das allererste ist und warum uns die Frage, wie wir es verstehen und wirklich praktizieren sollen, etwas Unbehagen bereitet.