DIE WELT IST EIN MEER – UNSER HERZ SEIN UFER
Vor einigen Jahren sah ich mich an der Westküste meines Heimatkontinents etwas um, als mir der Postkartenstand eines kleinen Lädchens auffiel. Da steckte zwischen all den bunten Hochglanzbildern diverser Sehenswürdigkeiten eine Schwarzweiß – Postkarte. Kein Foto, kein Grau in verschiedenen Stufen, nur sparsames Schwarz und Weiß. Das Bild einer chinesischen Kalligraphie. Mein bescheidenes (und wenig beanspruchtes) Schulfranzösisch reichte hin, die Übersetzung des Spruchs auf der Rückseite in eine weitere Sprache zu übersetzen und so kam dieser Eintrag zu seiner Überschrift.
Und ich kam zu einer Postkarte, die nun auch schon eine Weile verschollen ist und vermutlich als Lesezeichen in einem lange nicht mehr angefassten Buch ihrer Wiederentdeckung harrt. Der Spruch selbst – anscheinend ein chinesisches Sprichwort, wie man es (etwas despektierlich gesagt) wohl in einem Glückskeks finden kann. Aber da ist schon etwas dran … Und es gibt ein zweites, dazu passendes chinesisches Sprichwort: Der Grund des Herzens ist ferner als das Ende der Welt.
Das ‘Herz’ (心, xin / shin) hat hier ein sehr viel weiteres Bedeutungsspektrum als in unserer Sprache. Es steht nicht nur für den physiologischen ‘Motor’ unseres Organismus und im übertragenen Sinn für das Zentrum unserer Emotionen in ihrem ganzen Spektrum zwischen Liebe und Hass, Begehren und Abwehr, Lust und Schmerz. Über dieses Verständnis von ‘Herz’ hinaus ist ‘shin’ auch der Quell des Denkens, des Intellekts. Es ist das ‘Ich’ in seinem ganzen Umfang, in allen seinen Aspekten, das sich dem Ozean des Seins gegenüber sieht. Wie dieses ‘Ich’ nun mit dem Herzen sieht, gestaltet dieses Herz und macht es zur Küste dieses Ozeans. Eine gastfreundliche, mit schützenden Häfen oder eine karge, den Stürmen ausgesetzte.
Das Herz scheint uns das Zentrum unseres Ich zu sein, doch wenn wir den Grund unseres Herzens übend ausloten, findet sich darunter – ein Meer. Ein anderes? In der daoistischen Körperlehre nennt man es Qihai (氣海) – das Meer des Atems. Wobei auch ‘Qi’ ein sehr viel weiteres Bedeutungsspektrum hat als nur ‘Atem’. Qi ist auch die Lebensenergie (ein eng mit dem indischen prana verwandter Begriff); man kann es als eine Art ‘spirituelle’ Energie verstehen – mir persönlich genügt das schlicht-unprätentiöse ‘Atem’. Er ist mir Wunder genug, wenn ich ihn gründlich ausübe.
Dieses ‘Meer des Atems’ findet sich – wie alles – am einfachsten im Sitzen in der Stille. Auch, wenn es sich da um ein Konzept daostischen Ursprungs handelt, so hatte doch selbst Hakuin Ekaku, einer der wirkungsmächtigsten Lehrer der Rinzai-Tradition des Zen, keine Scheu, ein Loblied auf das Meer des Atems zu singen:
Dieses Meer meines Atems unter dem Nabel,
diese Lenden, die Beine hinab bis zu den Sohlen:
dies ist wahrlich ursprüngliches Antlitz –
dieses Antlitz bedarf keiner Nasenlöcher.Dieses Meer meines Atems unter dem Nabel,
diese Lenden, die Beine hinab bis zu den Sohlen:
dies ist wahrlich ursprüngliche Heimat –
keiner Kunde bedarf es von dieser Heimat.Dieses Meer meines Atems unter dem Nabel,
diese Lenden, die Beine hinab bis zu den Sohlen:
dies ist wahrlich mein eines Reines Land –
dieses Reine Land bedarf keines Schmuckes.Dieses Meer meines Atems unter dem Nabel,
diese Lenden, die Beine hinab bis zu den Sohlen:
dies ist wahrlich der Amida meines Leibes –
der keiner Verkündung des Dharma bedarf.
Es ist bemerkenswert, wie Hakuin physische Aspekte des Sitzens (Lenden, Beine, Füße und deren Sohlen) in diese Schau des “wahren Antlitzes”, der “ursprünglichen Heimat”, integriert. Diesen Verweis auf körperliche Form sollte man nicht als ‘Bodenhaftung’ missverstehen. Die Schau des ‘Meeres des Atems’ und seine körperliche Form und Gestalt sind nicht verschieden, nicht-zwei. Nichts, was anhaften könnte und nichts, daran anzuhaften. Keine Handbreit Boden, darauf zu stehen, geschweige denn daran zu haften …
Form ist nichts anderes als Leere, Leere nichts anderes als Form
Nebenbei: ‘shin’ steht auch für ‘Essenz’; wie im hier zitierten Sutra vom Herzen der großen transzendenten Weisheit, Maka Hannya Haramita Shin Gyo. Das hier mit ‘transzendent’ bzw. ‘haramita’ übersetzte Sanskritwort pāramitā bedeutet wörtlich ‘Erreichen des anderen Ufers’.
Nun wäre Hakuin nicht das Stacheltier, das er nun einmal war, wenn dieses Liedchen nicht auch ein wenig kratzig wäre. Doch dazu später. Zunächst: das “ursprüngliche Antlitz” ist keine Metapher für eine Seele, einen Persönlichkeitskern, so wenig wie der verwandte Begriff ‘wahre Natur’. Im Plattform-Sutra des sechsten Zen – Vorfahren Huineng (Daikan Eno) steht das “ursprüngliche Antlitz” für die vollständige Klarheit des Geistes, in der sich der Geist selbst verflüchtigt.
“Nicht denkend ‘gut’, nicht denkend ‘schlecht’ – was ist dein ursprüngliches Antlitz in eben diesem Augenblick?” Als Huiming diese Worte vernahm, wurde er augenblicklich erleuchtet. Er fragte mich: “Gibt es abgesehen von diesen geheimen Worten noch eine geheime, verborgene Wahrheit?” Ich antwortete: “Das, was ich dir sagte, ist nichts Geheimes. Wenn du dich vom Außen abkehrst, dich nach innen wendest und deinen eigenen Geist erleuchtest, dann sind alle Geheimnisse in dir selbst.”
Entsprechend empfiehlt Dōgen Zenji in seinem ‘Meditationshandbuch’ Fukan Zazen Gi:
Nehmt den Rückwärtsschritt des Umwendens des Lichts und des Zurückleuchtens. Von selbst werden Körper und Geist abfallen und dein ursprüngliches Gesicht wird erscheinen.
Das Reine Land des Buddha Amida – um zu Hakuins Lied zurückzukehren – ist eine buddhistische Doktrin von sehr viel größerer Popularität als Zen. Amida (Skrt. Amitābha) wird als eine unkörperliche Manifestation von Buddhanatur verstanden, die aus Mitgefühl das Bodhisattva-Gelübde abgelegt hat, eine perfekte Existenzebene zu schaffen. ‘Perfekt’ in dem Sinne, dass in ihr jedes Wesen vollständig erwachen wird, also gewissermaßen ein Sprungbrett ins Nirvāṇa. Diese Idee ist ein geschicktes Mittel, um insbesondere Menschen, die an der Möglichkeit eines Erwachens hier und jetzt verzweifeln, einen einfacheren Weg zu weisen – den, das Erwachen auf das Nachleben zu vertagen. Ein solches ‘Nachleben’ wird insbesondere im Amitābha-sūtra (Amida kyō) eingehendst und detailreich geschildert – dieses ‘Reine Land’ kann an Attraktivität problemlos mit christlichen oder islamischen Paradiesvorstellungen mithalten. Nur, dass es kein ewiges Paradies ist, sondern lediglich letzter Zwischenaufenthalt in Saṃsāra, Leben-und-Tod. 17 Jungfrauen gibt es freilich auch nicht, es steht nur Geschlechtslosigkeit zur Wahl …
Natürlich ist eine solche Perspektive für viele Menschen sehr motivierend. Entscheidend ist, wozu. Die Praxis, die den nachtodlichen Zugang zum Reinen Land öffnet, ist eine der Devotion, des Hin- und Aufgebens des ‘Selbst’ im Vertrauen auf Amida und in der Anrufung Amidas. Es ist ein anderer Ansatz als in der Zen-Übung, charakteristisch auf den Punkt gebracht mit der Alternative Vertrauen auf eigene Kraft (jōriki bzw. jiriki) oder auf fremde Kraft (tariki) – nämlich die Amida Buddhas. Kobun-sama sagte in einem mündlichen Vortrag (hier hoffentlich nicht zu frei übersetzt):
Im Zen hilft dir nicht einmal Buddha, erleuchtet zu werden. In der Schule des reinen Landes kannst du selbst überhaupt nichts tun, nur Buddha kann dies. Amitabha Buddha kann dich retten. Das sieht nach einer ganz anderen Idee aus. Aber die Wurzel ist dieselbe, die Erscheinung ist ein wenig unterschiedlich. Bei joriki – wenn das Selbst ich-zentriert oder selbst-zentriert ist, ist es nicht wahres joriki. Das wäre ein Missverständnis, als würde ein Fisch sagen ‘ich bin ein Hund’. Es wäre nicht das wahre Selbst. Joriki ist das joriki Buddhas, die wahre Natur von allem, jeder Person – und tariki ist dasselbe. Was sich unterscheidet, ist was du mit joriki meinst. Ist dies deine Kraft oder das joriki Buddhas? Und tariki ist die Kraft der anderen Person oder Buddhas Kraft. Die Wurzel ist dieselbe: Nicht-Selbst. Nicht-Selbst ist die Wurzel, die gleiche Wurzel.”
In China gab es schon sehr früh eine Wechselbeziehung zwischen Amidismus und Chan / Zen und in der Mingzeit vermischten sich auch die Praxisformen. 1654 kam dieses mingzeitliche Chan auch nach Japan, als Ōbaku-shū – die dritte Zenlinie neben Rinzai und Sōtō, die bereits im 13. Jahrhundert nach Japan gekommen waren. Hakuin hielt nicht viel von amidistischen Übungen; sie hatten in seinem Reformprogramm für das Rinzai-Zen keinen Platz und so ist seine Gleichsetzung Meer des Atems / ursprüngliches Antlitz / Reines Land nicht ohne eine kleine Spitze, wenn er dazu anmerkt, sein Reines Land bedürfe keines Schmucks. Mit dem Sukhāvatī, das Reine Land des Buddha Amida, wenn man dem oben genannten Amitābha-sūtra folgt, im Überfluss gesegnet ist.
Mit der ‘Schmucklosigkeit’ seines Reinen Landes deutet Hakuin ein wesentliches Charakteristikum der Zenübung an: sie ist nicht ‘motiviert’; es geht nicht um Gewinn oder Verlust. Das sind nur Köder, die wir uns selbst vorgaukeln, um danach zu schnappen. “Kein Verdienst”, wie Bodhidharma den Kaiser Wu von Liang knapp beschied. Und natürlich: der “Amida meines Leibes” bedarf keines Amida außerhalb meines Leibes. Keiner Verkündung und keiner Anrufung.
Das Sūtra von der Lotosblume des wunderbaren Gesetzes (Saddharmapuṇḍarīkasūtra, Myōhō renge kyō) beschreibt den Ozean als den Ort des Bodhisattva Mañjuśrī – auch dieser eine unkörperliche Manifestation der Buddhanatur, speziell ihres Aspektes der ‘Großen ans andere Ufer führenden Weisheit’, Mahāprajñāpāramitā. Es bedarf wenig, aus einem Raum ein formales Zendō zu machen: eine Sitzgelegenheit, das Ausüben des Sitzens und ein Symbol Mañjuśrīs reichen.
Das Sūtra schildert, wie Mañjuśrī für den Bodhisattva Prajñākūṭa (‘Anhäufung von Weisheit’) aus dem Palast des Drachenkönigs Sāgara (= ‘Ozean’) “von selbst aus dem großen Meer” aufsteigt, “wie auf einem großen Wagenrad auf einer tausendblättrigen Lotosblume” sitzend. Worauf Bodhisattva ‘Anhäufung von Weisheit’ den Bodisattva der ‘transzendenten Weisheit’ preist:
Indem du die Bedeutung der wahren Natur ausführlich darlegtest
Und das Gesetz des einen Fahrzeugs offenbartest,
Führtest du weithin die vielfache Schar der Lebewesen,
Und sie konnte schnell die Erleuchtung erlangen.
Mañjuśrī sagte: “Ich habe in dem Meere immer nur das Sutra von der Lotosblume des wunderbaren Gesetzes dargelegt und gepredigt.”
Auch, wenn es laut Hakuin keiner ‘Verkündung und Anrufung’ bedarf – wie sieht es mit ‘Darlegen und Predigen’ aus? Dōgen Zenji greift in Kai’in Zanmai, ‘Das Samādhi der Meeresinschrift’, Mañjuśrīs Worte auf und kommentiert sie:
“Inmitten des Meeres predige ich unablässig nur das Lotos-Sutra”. Weil nicht gesagt wird, daß das Ich hervorgeht, ist das Ich inmitten des Meeres. Auch ist vorne ein unablässiges Predigen, bei dem, kaum daß eine Welle sich bewegt, zehntausend Wellen folgen. Auch hinten ist das Lotos-Sutra, bei dem, kaum daß zehntausend Wellen sich bewegen, eine Welle folgt. […] Das sogenannte Vorne und Hinten sind die Seiten des Meeres, in dem das Ich ist. […] Es ist nicht so, daß es mitten im Meer jemanden gibt. Das Meer, in dem das Ich ist, ist nicht der Wohnort der weltlichen Menschen und auch nicht der beliebte Ort der heiligen Menschen. Das Ich ist allein mitten im Meer. [Das ist der Sinn von] unablässig nur predigen. Dieses mitten im Meer gehört weder zur Mitte noch zum Innen oder Außen, es ist beruhigt und sich unablässig [dort] aufhalten das Lotos-Sutra Predigen. Obwohl man sich nicht im Osten, Westen, Süden oder Norden aufhielt, kehrt man zurück, das ganze Schiff geleert und den Mond tragend. Diese wahrhafte Rückkehr [zum eigenen Ort] ist also Zurückkommen. […] Allein auf der Grenze des Buddha-Weges erscheint dies vollauf (genjō).
“Das ganze Schiff geleert und den Mond tragend.” In einem Waka drückt es Dōgen so aus:
shizuka naru der mond gespiegelt
kokoro no uchi ni in einem herzen frei von
sumu tsuki wa jeder ablenkung
nami mo kudakete selbst die brechenden wellen
hikari to zo naru reflektieren sein leuchten
Wer nun wissen möchte, was es mit der im Titel des zuvor zitierten Textes genannten “Meeresinschrift” auf sich hat: die “auf der Grenze des Buddha-Weges” vollauf erscheinende “wahrhafte Rückkehr” –
Dies macht man zur Einschreibung des ins Wasser Eingeschriebenen.
– wobei die Einschreibung des ins Wasser Eingeschriebenen nicht unbedingt die Einschreibung des ins Meer Eingeschriebenen ist.
Fassen [wir] es weiter in Worte, so ist es die Einschreibung des in den Schlamm Eingeschriebenen.
Sei es der Schlamm des Ozeangrundes oder des Ufers. Aber wir müssen es ja nicht nur “weiter in Worte fassen”. Die Wasserinschrift ist Schlamminschrift, ist Meeresinschrift und ist Herzinschrift.
In der einzelnen Überlieferung der Herzinschrift [von Meister zu Meister] schreibt [man] ins Wasser ein, schreibt [man] in den Schlamm ein und schreibt [man] in den Himmel ein.
Lassen wir es für heute damit bewenden. Schluss mit der Wühlerei im Schlamm. Näheren Aufschluss findet man am besten bei Dōgen selbst.
Zitate: Dōgens Fukan Zazen Gi beruhend auf Carl Bielefeldts englischer Übersetzung; Shōbōgenzō Kaiinzanmai nach Ōhashi / Elberfeld. Das Sutra des Sechsten Patriarchen nach Jarand, das Lotossutra nach Borsig. Bei Hakuin habe ich mich auf Dumoulins Übersetzung in ‘Zen – Geschichte und Gestalt’ gestützt, die der poetischen Form eines Liedes leider zu wenig gerecht wurde (was vermutlich auch gar nicht sein Anliegen war). Für Dōgens Waka war mir Heines englische Übersetzung Wegweiser. Ihnen allen gilt meine Dankbarkeit.